Das postkoloniale Frankfurt – Demokratie erinnern und gestalten

Panel-Diskussion mit Vorstellung des Projektes „Dekoloniale Persönlichkeiten der Demokratie“

16.05.2023 – 19:30 Uhr
medico-Haus, Lindleystraße 15, 60314 Frankfurt

Teaser

Anlässlich des Jubiläums zu 175 Jahre Deutsche Nationalversammlung Paulskirche in Frankfurt findet vom 18. – 21.05.2023 das städtische Paulskirchenfest statt und das Netzwerk Paulskirche organisiert vom 12. bis 17. Mai die Frankfurter Tage der Demokratie, im Rahmen derer sich dezentral in Frankfurt mit demokratischer Mitbestimmung auseinandergesetzt wird. Demokratische Teilhabe, Erinnerungskultur und die Gestaltung von Prozessen waren und sind geprägt von Ein- und Ausschlüssen entlang von gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Mirrianne Mahn, Dr. Onur Suzan Nobrega und Jeanne Nzakizabandi werfen einen post- und dekolonialen Blick auf diese Themen, moderiert von Aisha Camara als Teil eines Projektes, das wegweisende Stimmen im Diskurs hervorhebt.

Thesen

1. Konzept und Diskurs von Demokratie in Deutschland

Demokratie als Konzept und Diskurs ist immer im Wandel und Ausdruck einer hegemonialen Erzählung in Deutschland. Dabei kommen jedoch wichtige Aspekte wie demokratische Entwürfe außerhalb Deutschlands, die globalen Einflüsse auf die Entwicklung von Demokratie in Deutschland sowie Deutschlands Rolle in der Untergrabung demokratischer Bestrebungen weltweit (damals und heute) zu kurz. Darüber hinaus spielt die Vorstellung des Eigenen und seiner selbst als demokratisch und mit demokratischer Tradition eine wichtige Rolle in der Abgrenzung zu Anderen, funktioniert damit als ein zentrales Element von Rassismus. Eine de- oder postkoloniale Perspektive auf Demokratie in Deutschland beleuchtet diese Aspekte und trägt zu einer Erweiterung bzw. Neukonzeption des Konzepts bei.

  • Was ist bei der Diskussion von ‘Demokratie’ wichtig? Was fehlt bisher?
  • Wie kann eine de- oder postkoloniale Perspektive auf unsere Demokratie aussehen?
  • Kann mit dem Konzept ‘Demokratie’ gearbeitet werden? Oder braucht es Neukonzeption?

2. Erinnerungskultur und -praxis

Das Paulskirchenjubiläum feiert eine konstruierte Kontinuität von Demokratie in Deutschland, und macht damit z.B. die Kolonialzeit und die Zeit des Nationalsozialismus “unsichtbar”. In die Zeit der Liberalisierung des Bürgertums fällt auch die Liberalisierung der Märkte: die Industrialisierung der Moderne markiert auch die Ökonomisierung von Böden, Rohstoffen, Gütern, Produkten, Ideen und auch Menschen. Diese gesteigerte Mobilität führte zu überregionalen, nationalen und internationalen (Arbeits-)Migrationsregimen. Die Beschaffung von Arbeitskräften, ökonomische Profitorientierung und Ausbeutung zum nationalen Vorteil des eigenen Bürgertums und der eigenen Bevölkerung stehen noch heute im Kontrast zu anderen Bevölkerungsgruppen im In- und Ausland, sodass die Ökonomie weiterhin eng mit demokratischen (Un-)Gleichheiten, Rechten und Teilhabe verbunden ist und im Wettbewerb steht. Die hegemoniale Demokratiekonstruktion übersieht globale und lokale Bezüge, Brüche und Ungleichheiten. Sie ermöglicht so nur ein “positives” Gedenken für einen bestimmten Teil Deutschlands, und blendet die Perspektiven von BIPoC Personen, queeren Menschen, Frauen, behinderten Menschen, Migrant*innen, etc. aus. Diese Form der Erinnerungskultur spiegelt gesellschaftliche Machtverhältnisse wider, welche die weiße, männliche, wohlhabende Perspektive in den Vordergrund stellt und als allgemeingültig wahrnimmt. Zugleich steht die Vorstellung einer gut aufgearbeiteten deutschen Vergangenheit dem entgegen, dass in Wirklichkeit viele Perspektiven und Elemente von ihr ausgeschlossen oder unterrepräsentiert sind und dies somit in der Gegenwart umso stärker widerhallt. Die Rekonstruktionsarchitektur in Bezug auf die Paulskirche ist dafür ein gutes Beispiel: architektonische und städtebauliche Maßnahmen stellen den Versuch dar, die nationale Vergangenheit in ein positives Geschichtsbild zu stellen und sie ihrer historischen Widersprüchlichkeit zu entledigen.

  • Wer, was und wie wird erinnert vs. nicht erinnert in unserer Stadt und Gesellschaft?
  • Wessen Perspektiven und welche Praktiken sollten einen neuen Stellenwert in der Erinnerungskultur in Deutschland aus einer systemischen Perspektive erhalten?
  • Welche Vision gibt es für neue Ausgestaltungen von Erinnerung, Aufarbeitung und Verantwortung?

3. Praxis von Demokratie heute

Auch heute sind demokratische Teilhabe und die Gestaltung von Prozessen geprägt von Ein- und Ausschlüssen entlang von gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Dies wird konstituiert auf einer Vielzahl von Ebenen und Orten, vom Individuum bishin zur globalen Ebene.

  • Wer nimmt an demokratischen Prozessen teil, wie funktionieren Ein- und Ausschlüsse?
  • Was ist in Bezug auf die Zukunft der Demokratie wünschenswert? Welche Veränderungen sind denkbar?
  • Wie sollte de-/ postkoloniale Erinnerungskultur aussehen?
  • Wie könnte die hegemoniale, nationale Perspektive auf Erinnerung durch einen systemischen Ansatz erweitert werden? Was ist die Konsequenz dieses Ansatzes für die Erinnerungspraxis und das Demokratie-Konzept einer plural gewachsenen Gesellschaft der Gegenwart?

Panelziele

Für ffm-postkolonial ist es wichtig, mit den Panelisten Mirrianne Mahn, Dr. Onur Suzan Nobrega und Jeanne Nzakizabandi unterschiedliche Formen, Ebenen und Möglichkeiten von demokratischem, kritischem Handeln einzuladen. Außerdem ist es wichtig zu unterstreichen, dass die in den hegemonialen Diskursen übersehenen Stimmen nicht homogen, sondern auch divers und plural sein können. Entsprechend gibt es auch hier Herausforderungen und Verhandlungen in Möglichkeiten der Community-übergreifenden und intersektionalen Vergesellschaftungsformen und Solidarisierungen.

Postkoloniale Rundgänge und vieles mehr beim Spurensuche Festival

„Welchen Blick hat unser junges Publikum auf eine weiße, norm-privilegierte Welt? Welche Narrative der Rassismuskritik und des Empowerments wollen wir jungen Menschen zukünftig auf unseren Bühnen zeigen?“ Solchen und vielen anderen wichtigen Fragen widmet sich das diesjährige Spurensuche Festival (HIER … Continue reading

Rassistische und sexistische Darstellungen sind auf dem Oktoberfest nicht hinnehmbar

„Auf der Wies’n sind verschiedene rassistische und sexistische Motive zu sehen, wie beispielsweise eine Schwarze Person, die den Rock einer Frau anhebt und auf ihren nackten Hintern blickt.“ Das Netzwerk rassismus- und diskriminierungsfreies Bayern und der Migrationsbeirat der Stadt München … Continue reading

Ahmad Taheri

Im April 1969 erlebte die Goethe Universität Frankfurt a. M. die bis dato eindrücklichsten Proteste ihrer Geschichte. Eine Woche lang beteiligten sich zeitweise über tausend Studierende an Blockade-Aktionen auf dem Campus der Universität. Ausgelöst durch den Ablehnungsbescheid der Re-Immatrikulation des iranischen Studenten Ahmad Taheri. Ein paar Wochen zuvor war er in Abschiebehaft gekommen, nachdem er dem Student:innenführer Hans-Jürgen Krahl zu Hilfe kam, als dieser in der Nacht auf dem Campus zusammengeschlagen wurde. Doch wie sich herausstellte, waren es Schläger von der Zivilpolizei. Die beiden wurden verhaftet, doch während Krahl nach wenigen Stunden wieder freigelassen wurde, kam Taheri zunächst in Untersuchungs-, später in Abschiebehaft. Einiges wies darauf hin, dass die deutschen Behörden sich im Eilverfahren einen unliebsamen Zeugen entledigen wollten. Taheri war nicht nur beim Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), sondern auch bei einer der prominentesten iranischen Oppositionsgruppe, der Konföderation (CISNU) iranischer Studenten, aktiv. Den engen Beziehungen mit dem Schah-Regime verpflichtet, nutzte die BRD die Ausländergesetze, um iranische Oppositionelle zu verfolgen. Iranische und deutsche Studierendengruppen mobilisierten daraufhin zu der ersten dokumentierten Protestaktion gegen Abschiebung am Frankfurter Flughafen, in vollem Bewusstsein um die politische Brisanz. Der dadurch erzeugte mediale aber auch juristische Druck führte zur Aussetzung der Abschiebung. Taheris Re-Immatrikulationsbemühungen wurden hingegen mit der Begründung abgelehnt, dass die Frist für das Semester abgelaufen war. Der AStA vermutete darin einen Vorwand zur Unterstützung der Ausländerbehörden und rief zu Protesten auf. 500 Studierende begleiteten Taheri zum Immatrikulationsbüro. Er konnte zwar sein Studium nicht in jenem Semester fortsetzen, aber immerhin aufgrund der Solidaritätsaktionen in der Bundesrepublik bleiben. Drei Jahre später wurde sein Asylgesuch anerkannt.[1]

Während Ahmad Taheri Ende der 1960er Jahre eher zufällig in die bundesrepublikanische Öffentlichkeit gestolpert war, prägte er als Journalist in den 1980er und 1990er Jahren maßgeblich eine differenzierte Perspektive auf die WENA-Region (West-Asien & Nord-Afrika). In Mashhad, im Nordosten des Irans, unweit der Grenze zu Afghanistan und Turkmenistan, geboren, kam Ahmad Taheri Anfang der 1960er Jahre nach Europa, um zunächst Volkswirtschaft und dann Soziologie an der Universität in Frankfurt a. M. zu studieren. Später arbeitete er u.a. als Auslandskorrespondent für zahlreiche Zeitungen wie die Frankfurter Rundschau, die FAZ, die taz oder die Zeit, aber auch den WDR und berichtete über den Iran, Afghanistan, Pakistan, den Irak oder den Senegal. Entsprechend war die Spannbreite der Themen, über die er schrieb, weit gefasst.

Nuanciert skizzierte er die politischen Machtkämpfe geistlicher Regierungsführer nach dem Tod Khomeinis im Iran, die Kämpfe der afghanischen Mujaheddin gegen die Sowjetunion, die neuen Bündnisse nach dem Zusammenbruch der Ostblockstaaten und die Neuformierung der Weltordnung durch die Golfkriege. Gekonnt zeichnete er Kontinuitäten und Brüche nach, indem er aktuelle Ereignisse mit historischen Geschehnissen verband und literarische und religiöse Referenzen aufzeigte. Zu einem Zeitpunkt als Nicht ohne meine Tochter als Verkaufsschlager im Buchhandel und an den Kinokassen Rassismus und Stereotype popkulturell beförderte, stellte Ahmad Taheri seine journalistische Tätigkeit dem Zeitgeist, aber auch dem historischen Nachklang des Orientalismus entgegen, in dessen Rahmen die WENA-Region als irrational und inhärent gewaltvoll dargestellt wurde. Über Jahre hinweg berichtete er beispielsweise über die medial sehr präsente Fatwa, die Khomeini gegenüber Salman Rushdie für sein Buch Die Satanischen Verse ausgesprochen hatte. In seiner Rezension über den umstrittenen pakistanischen Film International Guerillas, der Salman Rushdie als Hauptschurken darstellte, zeigt Ahmad Taheri nicht nur wie die Fatwa von fundamentalistischen Kräften auch für kommerziellen Zwecken genutzt wurde, sondern auch anhand historischer Beispiele, wie die Auslegung der Blasphemie im Islam keineswegs so rabiat war, wie behauptet: „Bedauerlich, daß das Verbot des Films ‘International Guerillas’ in England aufgehoben wurde. Doch nicht etwa, weil der Film Haß und Gewalt sät oder antisemitisch ist, davon gibt es täglich eine Menge in meinen 19 TV-Kanälen. Vielmehr, weil das primitive Machwerk dem Ansehen des Islam schadet, mit dessen kulturellem Erbe ich, obwohl ein bekennender Atheist, tief verbunden bin.“[2]

Während die deutsche Medienlandschaft bis heute noch unzureichend vielfältige gesellschaftliche Perspektiven abbildet, gehörte Ahmad Taheri zu den wenigen migrantischen Journalist*innen, der nicht zuletzt aufgrund einer Bildungsbiografie, die nicht nur vom Kanon des globalen Nordens geprägt war, differenziert und nuanciert über den westasiatischen Raum berichtete. Die seit Herbst 2022 anhaltende revolutionäre Bewegung im Iran hat Ahmad Taheri nicht mehr mitbekommen. Vier Jahre zuvor verstarb er in Frankfurt a. M.. Seine fundierten Kenntnisse über die iranische Geschichte und die politischen Strukturen wären sicherlich eine Bereicherung für die deutschsprachige Berichterstattung, die dieser Tage tiefgründige Analysen vermissen lassen.

von Bahareh Sharifi


[1] Seibert, Nils: Vergessene Proteste – Internationalismus und Antirassismus 1964 – 1983, S. 144ff.

[2] taz, 24.8.1990) https://taz.de/!1754857/

Theodor Wonja Michael

Als Zeitzeuge des Nationalsozialismus ist das Leben von Theodor Michael besonders bedeutend für die Schwarze Geschichte Deutschlands. Zusammen mit weiteren Angehörigen seiner Generation steht er für die Verbindung der kleinen Schwarzen und afrikanischen community, die um die Kolonialzeit herum bis zum Ender der Weimarer Republik bestand, mit der jüngeren Generation Schwarzer Menschen, die vor allem seit der Veröffentlichung von Farbe bekennen, sowie die Gründung von ADEFRA und ISD sichtbarer geworden ist. Michael schaffte es gegen alle Widersprüche von kolonialen Völkerschauen ins Theater, zu Film und Fernsehen, obwohl ihm noch lange nach dem zweiten Weltkrieg immer wieder die gleichen Blicke und Sprüche begegneten, die er schon seit seiner Kindheit im Berlin der Weimarer Republik kannte.

Theodor Michael wurde 1925 als Kind des Kameruners Theophilus Wonja Michael geboren, zu dessen Vorfahren auch Bona N’golo Mbimbi a M’bele zählt, der als Namensgeber und Herrscher von Bimbialand. Michaels Großvater gehörte zu denjenigen, die einen der Schutzverträge mit dem deutschen Reich unterzeichneten. Sein Vater befand sich spätestens ab 1903 in Deutschland, arbeitete unter anderem am Bau der Berliner U-Bahn mit und ab den zwanziger Jahren als Komparse beim Film – eine der immer seltener werdenden Möglichkeiten zum Gelderwerb für afrikanische Menschen in Deutschland, aber auch ein Karriereweg, der sich für seinen Sohn als prägend herausstellen sollte.

In der Nachkriegszeit schafft es Michael schließlich, durch ein Stipendium der damaligen Stiftung Mitbestimmung eine Ausbildung an der Akademie in Hamburg zu beginnen, wo er Volkswirtschaft studiert. Zwar hatte er schon als Kind immer gelesen, doch nun setzt er sich zielgerichtet mit den wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen Afrikas auseinander. Anschließend verbringt er noch ein weiteres Jahr in Paris und lernt die panafrikanischen Zeitschriften Presence Africaine und Jeune Afrique kennen. Mit Interesse beobachtete er, wie die ehemaligen Kolonien in Afrika komplett unvorbereitet, ohne ausreichend ausgebildete afrikanische Beamte und mit fehlender Infrastruktur in ihre Unabhängigkeit entlassen wurden. Nach diesem Jahr kehrt er voller neuer Ideen und Pläne zu seiner Familie, von der er sich inzwischen sehr entfremdet hatte, zurück. Seine Frau und er entschließen sich jedoch, alles für die Familie zu geben, da eine Trennung für ihre Schwarzen Kinder unzumutbar wäre. Da seine Expertise zu afrikanischen Angelegenheiten schnell bekannt wurde, bekam er bald eine Position als Redakteur des Afrika-Bulletin angeboten, in dessen Redaktion er half, ein immer größeres Netzwerk zu den afrikanischen Botschaften in Bonn aufzubauen. Obwohl das Bulletin nach einiger Zeit wegen ausbleibender Förderung eingestellt werden musste, leisteten Michael und seine Redaktion damit einen wichtigen Beitrag zu einer informierten Berichterstattung über den afrikanischen Kontinent, die auch heute oft noch durch die Reproduktion von stereotypen Darstellungen und Rassismen geprägt ist.

Nach Ende dieser Zeit dauerte es nicht lange, bis er, als mittlerweile ausgewiesener Afrika-Experte vom BND angeworben wurde. Über seine Arbeit dort verlor Michael bis zu seinem Tod kein Wort in der Öffentlichkeit. Nur, dass ihm dort, wie in anderen alltäglichen und beruflichen Situationen, immer wieder die gleiche Art von Rassismus begegnete. In seiner ersten internen Dienstbeurteilung ließ er denn auch richtigstellen, dass nicht er anfänglich Probleme mit einigen Kollegen gehabt habe, sondern diese vielmehr mit ihm. Bei seiner Arbeit für den BND wurde er zum einen von der Hoffnung geleitet, mit seinem persönlichen Einsatz das Bild Schwarzer Menschen in der Öffentlichkeit zu verbessern, zum anderen von seinem ganz eigenen Sinn für Recht und Gerechtigkeit. Denn auch wenn er weiterhin rassistische Erfahrungen machte, war nach den Erfahrungen von Weimarer Republik und Nationalsozialismus die Bundesrepublik für ihn grundsätzlich ein Rechtsstaat, den er schützen wollte.

von Kofi Shakur

Semra Ertan

Semra Ertan war eine Schriftstellerin und Arbeitsmigrantin. 1956 in der Küstengroßstadt Mersin/Türkei geboren, kam sie 1972 mit 15 Jahren nach Deutschland, zwei Jahre später als ihre Eltern. Weil ihr ihre schulische Ausbildung nicht anerkannt wurden, konnte sie nicht studieren. Stattdessen war sie als ehrenamtliche Dolmetscherin für andere ‚Gastarbeiter:innen‘ tätig, arbeitete in verschiedenen Betrieben, war politisch aktiv und begann mit 19 Jahren als Schriftstellerin die Erlebnisse, die sie in Deutschland sammelte, zu verarbeiten. Semra Ertan starb mit 25 Jahren in Hamburg. Sie verbrannte sich öffentlich aus Protest gegen Rassismus, Ausländerfeindlichkeit und Antifeminismus und starb an den Folgen der Verbrennungen zwei Tage später. Kurz zuvor hatte sie dem NDR und dem ZDF ein Gedicht vorgetragen und ihre Absichten mit den Worten erklärt, „ich möchte, dass Ausländer nicht nur das Recht haben, wie Menschen zu leben, sondern auch das Recht haben, wie Menschen behandelt zu werden. Das ist alles.“ Sie hinterließ über 350 Prosatexte, und für das postum erschienene frühe Werk Mein Name ist Ausländer / Benim adım yabançı wurde ihr in 2021 eine außerordentliche Alfred-Döplin-Medaille zuerkannt.

Der öffentliche Selbstmord von Semra Ertan fand in einem Kontext einer hohen ‘Ausländerfeindlichkeit’ der Gesamtbevölkerung und rechtsradikaler Gewalttaten statt; nicht zu erwähnen sind strukturelle Diskriminierung und Alltagsrassismen. Entsprechende Bürgerinitiativen sowie politische Gruppieren fanden großen Zulauf. Kurz vor ihrem Tod hatte Bundeskanzler Helmut Schmitt zur Debatte des ‚Ausländerproblems‘ mit den Worten beigetragen, dass Ausländer sich entweder einbürgern oder zurückkehren sollen. Während sich in 1978 noch 39% der Deutschen die Rückkehr von Ausländern in ihre Heimatländer befürworteten, waren 1982 bereits 68% dieser Ansicht – ein politisches Klima, dass sich mit der Ölkrise von 1982 so verschärfte, dass Ausländer als Konkurrenten auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt betrachtet wurden. Zudem konnten Ausländer nicht ihren Berufswunsch erlernen, sondern es wurde ihnen nach ethnisch-rassistischen Motiven zumeist Hilfsarbeiterjobs zugewiesen. Außerdem gab es keine Schulpflicht für ausländische Kinder oder sie kamen in spezielle ‚Ausländerklassen‘. Was Ertan nicht mehr erlebte, war die weitere Eskalation von sogenannten fremdenfeindlichen aber eigentlich rassistischen Übergriffen wie Mölln (1992) oder Solingen (1993). Ertan aber wollte bereits 1982 auf diese drastische Weise die Öffentlichkeit adressieren, um ihre Stimme hörbar zu machen, die bis dahin niemand hören wollte.

Nach ihrer Tat protestierten viele türkischsprachige Zeitungen gegen die grassierende Ausländerfeindlichkeit, für mehr menschenwürdige Behandlung und Gleichbehandlung der ca. 1,5 Millionen Türk*innen in Deutschland. In der türkischen community, insbesondere in Hamburg, aber auch in den Schulbüchern in der Türkei war Semra Ertans Namen bekannt. In Deutschland gab es zwar antirassistische Demonstrationen, jedoch klang das Bewusstsein für Semra schon sehr bald ab. Einige Wochen nach dem Selbstmord erschien ein Beitrag im Fernsehmagazin Monitor mit dem Titel „Tod einer Türkin“ – ohne ihren Namen im Titel zu nennen. Ein halbes Jahr nach Semra zündete sich Hasan Fikri Koşan in St. Pauli aus Protest an. Der investigative Journalist Günther Wallraff widmete u.a. Semra Ertan sein Buch „Ganz unten“, das 1985 erschienen war, jedoch war hier auch der Name falsch geschrieben.

Erst im Jahr 2018 setzte mit der Initiative in Gedenken an Semra Ertan die Erinnerung an Semra durch ihre Nichte mit Gedenkveranstaltungen und Forderungen nach einer Gedenktafel und/ oder einer Umbenennung eines öffentlichen Raums wie eine Straße oder ein Platz ein. Mit der Buchveröffentlichung im Jahr 2020 verstärkte sich dieser Wunsch nach einem Ort des Gedenkens.

Diese Initiative ist eine von vielen Erinnerungs- und Gedenkinitiativen, die den Blick auf die zahlreichen rassistischen Übergriffe lenken. Doch nicht nur soll dabei an die Opfer gedacht werden, sondern auch an Ausgrenzung, Ablehnung, Diskriminierung und Gewalt in der demokratischen Bundesrepublik Deutschland. Dass die Praxis des Gedenkens auch politisch und zu hinterfragen ist, in dem jemand bestimmt, an wen erinnert wird, wer eingeladen wird und was dabei beachtet wird, drückt auch der Offene Brief der Initiative an Bundesregierung zur „Gedenkstunde für die Oper terroristischer Gewalt“ vom März 2023 aus. Die Initiative ist mittlerweile ein Teil des Netzwerks von Angehörigen von Opfern und Überlebenden des rechten Terrors.

von Tülay Günes

Hans J. Massaquoi

Der Journalist und Buchautor wurde 1926 mit dem Namen Hans-Jürgen Massaquoi in Hamburg geboren. Seine Eltern waren die Krankenschwester Bertha Baetz und der Student Al Haj Massaquoi. Sein Vater lebte zum Zeitpunkt der Geburt in Irland und Hans J. Massaquoi lernte ihn in seiner Hamburger Zeit nie persönlich kennen. Sein Großvater war Momolu Massaquoi, Generalkonsul von Liberia in Hamburg. In dessen Villa im vornehmen Stadtteil Rotherbaum verbrachte er seine ersten Lebensjahre. Als der Diplomat 1929 nach Liberia zurückkehrte und Bertha Baetz sein Angebot, die beiden mit dorthin zu nehmen, ausschlug, zog die Alleinerziehende mit ihrem kleinen Sohn in das Arbeiterviertel Barmbek. Dort erlebten sie den Aufstieg des Nationalsozialismus. Hans J. Massaquoi wollte als Kind, das dazugehören wollte, zur Hitlerjugend und als Jugendlicher zur Wehrmacht. Doch immer deutlicher und bedrohlicher zeigten sich die rassistischen Ausgrenzungen. Mit Hilfe seiner Mutter sowie einiger weniger Personen überlebte er die 12 Jahre Rassenwahn des nationalsozialistischen Regimes. 1948 wanderte er in die USA aus – als junger Mann, der aus rassistischen Gründen im Nationalsozialismus die Schule nach der 8. Klasse hat verlassen müssen. Später studierte er Publizistik, engagierte sich in der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung und arbeitete als Chefredakteur der US-amerikanischen Zeitschrift Ebony. Er interviewte unter anderem Martin Luther King, Malcolm X, Nnamdi Azikiwe, Muhammad Ali, Jimmy Carter und Walter Scheel. 1999 veröffentlichte er seine Autobiographie Destined to witness, die im gleichen Jahr auch auf Deutsch erschien – bedauerlicherweise mit einem rassistischen Kinderreim als Titel. 2013 starb er in Jacksonville/Florida.

1966 landete Hans J. Massaquoi auf dem Frankfurter Flughafen. Es war der erste Besuch des Journalisten, nachdem er Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Richtung Liberia und Nigeria und danach USA verlassen hatte. Sein Auftrag: Recherchieren, wie es Schwarzen zwanzig Jahre nach dem Sieg der Alliierten über das NS-Regime geht. Welche Rechte haben sie? Wie sieht es mit Rassismus im Alltag und Chancengleichheit aus? Haben die Deutschen nach der Nazizeit ihre Einstellung in diesem Punkt verändert? Er beschäftigte sich mit der Situation von Kindern Schwarzer Soldaten der US-Armee und weißen Frauen. Und er traf sich mit mehreren Schwarzen, wie etwa mit dem Basssänger Owen Williams, um ihre Lebenswelten in Deutschland kennenzulernen.

Danach reiste er immer wieder nach Deutschland, ging auf Lesereisen und sprach in Talkshows, nicht zuletzt in den 1990er Jahren, als der alarmierende Anstieg an rassistischen Angriffen und Morden seinen anfänglichen Optimismus zunichte gemacht hatte. Die deutsche Geschichte habe gezeigt, dass man sich Intoleranz und Rassismus nicht früh genug widersetzen könne, ganz gleich, wann, wo und in welcher Form sie ihr hässliches Gesicht zeigten, schrieb er in den Nachgedanken seiner Lebensgeschichte.

Sein 1999 erschienenes Buch gilt als die erste Autobiographie eines Schwarzen Deutschen, der den Nationalsozialismus überlebt hat. Ihm folgten die wertvollen Memoiren von Marie Nejar, Gerd Schramm und Theodor Wonja Michael [LINK]. Zuvor hatten die Schwestern Erika Ngambi und Doris Reiprich bereits 1986 ihre Überlebensgeschichte als Schwarze junge Frauen in den wichtigen Sammelband Farbe bekennen: Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte einfließen lassen.

Hans J. Massaquoi steht zudem für zwei Familien, die sich den rassistischen Diskursen rund um Liebesbeziehungen zwischen Schwarzen und Weißen widersetzten. Mit seinem Engagement für demokratische Prinzipien, insbesondere für die Gleichheit der Menschen und Chancengleichheit war und ist Hans J. Massaquoi für viele Menschen, nicht zuletzt für Schwarze Deutsche und Deutsche of Color eine wichtige, identitätsstiftende und stärkende Figur.

von Anke Schwarzer

Quellen:

  • Hans-Jürgen Massaquoi (1999):  „N***, N***, Schornsteinfeger!“ Meine Kindheit in Deutschland. Fretz und Wasmuth Verlag, Zürich.
  • Hans-Jürgen Massaquoi (2004): Hänschen klein, ging allein … Mein Weg in die Neue Welt. Scherz Verlag, Frankfurt am Main.
  • Katharina Oguntoye (1997): Eine afro-deutsche Geschichte. Zur Lebenserfahrung von Afrikanern in Deutschland von 1884 bis 1950.

James W. C. Pennington

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Fasia Jansen

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