Online-Workshop „Postkolonialismus – Spuren in München“

Am Beispiel der Stadt München wird die vermeintlich banale Alltäglichkeit kolonialistischer Weltbilder und post/kolonialer Verhältnisse in ihrer Breiten- und Tiefenwirkungen an die Oberfläche geholt und auf diese Weise reflektier- und verhandelbar gemacht. Di, 16.11.2021, 19.30 – 21.30 Uhr Mit Katharina … Continue reading

Koloniale Kontinuitäten und Dekolonialität – Studierendenkonferenz der Romanistik und Ethnologie

Offener Brief an die MVG: „KolumBUS umbenennen“

Gemeinsam mit vielen anderen Münchner Organisationen unterstützen wir den Offenen Brief, den die Gruppe Cambio an die Münchner Verkehrsgesellschaft (MVG) richtet: Benennt den „KolumBus“ um! Offener Brief als PDF zum Download

Zum internationalen Tag gegen Polizeigewalt – Überlegungen von frankfurt postkolonial

Zum internationalen Tag gegen Polizeigewalt möchten wir als frankfurt postkolonial einige Überlegungen zu den (post)kolonialen Kontinuitäten in der deutschen Polizei teilen. Inspiriert von antirassistischen und polizeikritischen Kämpfen und Debatten führen uns die postkolonialen Spuren der deutschen Polizei zum 1. Revier in Frankfurt, seinen Verstrickungen in den Fall des NSU 2.0 sowie zu den exzessiven Vorfällen von Racial Profiling nach den Ereignissen am Frankfurter Opernplatz. Um diese kritische Auseinandersetzung mit den postkolonialen Kontinuitäten in der Polizei zu verstetigen, werden wir das 1. Revier in unseren Stadtplan und -führung als weitere Station aufnehmen.Wir schließen uns zum heutigen Anlass den Forderungen des Bündnisses „15.03. – Internationaler Tag gegen Polizeigewalt“ an und fordern: Schluss mit rassistischer Polizeigewalt und Racial Profiling! Solidarität mit den Betroffenen! Decolonize the Police!

Erfahrungen mit der Polizei

Wie Menschen über die Polizei denken hängt häufig davon ab, welche Erfahrungen sie mit der Polizei machen und das ist wiederum abhängig von der jeweiligen sozialen Position. Für viele mehrheitlich weiße Personen erscheint die Polizei zunächst als „wichtiger Ansprechpartner für die Regelung sozialer Konflikte und die Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung, als Freund und Helfer eben“ [1]. Der Kontakt mit der Polizei ist für sie selten. Aus dieser Perspektive heraus wird regelmäßig mehr Polizei gefordert, um gesellschaftliche Probleme zu lösen. Dabei wird aber außer Acht gelassen, dass dieses Narrativ nicht für alle Menschen gleichermaßen gilt, was sich in der ungleichen Behandlung von Menschen seitens der Polizei zeigt. Marginalisierte Gruppen machen nämlich gänzlich andere Erfahrungen mit der Polizei. Für viele BIPoC (Black, Indigenous, People of Color) ist ein unfreiwilliger Kontakt mit der Polizei Alltag und läuft dabei nicht nach dem Narrativ des Freund und Helfers ab. Stattdessen werden sie als „Probleme, Störenfriede, Eindringlinge“ [2] wahrgenommen und werden kontrolliert, schikaniert, beleidigt und körperlich angegriffen. Die Polizei ist also vermeintlicher Freund und Helfer einiger und Bedrohung für alle Personen, die aus einer rassistischen Logik heraus kriminalisiert werden. Für sie stellt die Polizei keine Sicherheit dar [3]. Die Perspektiven dieser Menschen werden im öffentlichen Diskurs selten berücksichtigt. Zwar ist nach dem Mord an George Floyd im Frühling 2020 Polizeigewalt öffentlich breit diskutiert worden, jedoch geschieht dies in Deutschland in den Mainstream Medien fast ausschließlich in Bezug auf die USA. Dass rassistische Praxen, Polizeigewalt bis zu Morden an BIPoC durchaus auch in Deutschland Standard sind, wird unsichtbar gemacht. 

Koloniale Geschichte der Polizei

Um diese Praxen als koloniale Kontinuitäten zu verstehen, muss die Geschichte der Polizei betrachtet werden. In ihrer heutigen Gestalt, also als exekutive Rechtsdurchsetzung, gibt es die Polizei noch gar nicht so lange: Erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde sie in Europa und den USA eingeführt [4]. In den USA sind die kolonialen Kontinuitäten offensichtlich. Die Polizei ist dort unmittelbar mit der Sklaverei verbunden. Um Sklavenaufstände zu verhindern richteten die Südstaaten, inspiriert von den bereits existierenden Praktiken in den karibischen Kolonien, Sklavenpatrouillen ein. Diese Strukturen wurden nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkriegs 1865 nicht zerschlagen, sondern gingen zum Teil in die offizielle Polizeistruktur über. Die extralegalen Strukturen (z.B. rassistische Morde durch Mobs) wurden im Rahmen des rassistischen und rechtsextremen Ku-Klux-Klans weitergeführt. Auf diese Sklavenpatrouillen gehen viele Praktiken der europäischen und nordamerikanischen Polizei, wie die Einführung von Pässen und die Befugnis zu Hausdurchsuchungen, zurück [5]. Da die Verbindungen in Deutschland nicht so unmittelbar sind, wird hier fälschlicherweise angenommen, dass diese nicht existieren. Aber auch für die deutsche Polizei ist der Kolonialismus prägend gewesen. In den deutschen Kolonien wurden „Kategorisierungs-, Sicherheits-, Überwachungs- und Kontrolltechniken“ [6] erprobt, die dann auch in den Metropolen der Kolonien durchgesetzt wurden. Frantz Fanon macht dies in seinem Werk „Die Verdammten dieser Erde“ deutlich: 

„Die kolonisierte Welt ist eine zweigeteilte Welt. Die Trennungslinie, die Grenze wird durch Kasernen und Polizeiposten markiert. Der rechtmäßige und institutionelle Gesprächspartner des Kolonisierten, der Wortführer des Kolonialherrn und der Unterdrückungsregimes ist der Gendarm und Soldat. In den kapitalistischen Ländern schiebt sich zwischen die Ausgebeuteten und die Macht eine Schar von Predigern und Morallehrern, die für Desorientierung sorgen. […] [A]ll diese geradezu ästhetischen Formen des Respekts vor der etablierten Ordnung schaffen um den Ausgebeuteten eine Atmosphäre der Unterwerfung und Entsagung, welche den Ordnungskräften ihre Arbeit beträchtlich erleichtert. Dagegen sind es in den kolonialen Gebieten der Gendarm und der Soldat, die ohne jede Vermittlung, durch direktes und ständiges Eingreifen den Kontakt zum Kolonisierten aufrechterhalten und ihm mit Gewehrkolbenschlägen und Napalmbomben raten, sich nicht zu rühren“ [7].  

Fanon verweist hier auf die alltäglichen gewaltvollen Begegnungen der Kolonisierten mit der Polizei, die dauernde Präsenz der Polizei und ihre Militarisierung [8] sowie die einseitige Schutzfunktion der Polizei, die diejenigen, die als Andere kategorisiert werden, ausschließt und zum Schutz weißer Subjekte und der kolonialen Herrschaft kriminalisiert. Diese Praktiken charakterisieren auch die heutigen polizeilichen Begegnungen mit rassifizierten Personen. Besonders deutlich wird das an der Praxis des Racial Profiling, also rassistischen Polizeikontrollen von Personen, die von der Polizei als nicht Deutsch gelesen werden [9]. Zudem besteht die primäre Funktion der Polizei – die Sicherung der politischen Ordnung – weiterhin fort [10].

Einschränkung der Bewegungsfreiheit zur Kontrollsicherung- damals und heute

Eine weitere polizeiliche Praktik aus den deutschen Kolonien ist die Einschränkung der Bewegungsfreiheit zur Kontrollsicherung, durchgesetzt durch „Arbeitscamps, Restriktionen von Versammlungen der kolonisierten Bevölkerung [und] exzessive Gewalt“ [11] Diese sind heute noch essentieller Teil von Polizeiarbeit und wurden in Deutschland und anderen Teilen Europas zunächst bei Sinti*zze und Rom*nja angewendet. In vielen Regionen geschah dies bereits vor dem Nationalsozialismus. Das artikulierte Selbstverständnis der BRD beinhaltet, dass rassistische Denk- und Handlungspraxen innerhalb von staatlichen Institutionen wie der Polizei nach der Zeit des Nationalsozialismus abgeschafft wurden [12]. Dass dies nicht passiert ist, zeigt unter anderem die Integration des rassistischen Wissens aus dem Polizeiumgang mit Sinti*zze und Rom*nja vor und während des Nationalsozialismus in gegenwärtigen deutschen Polizeipraktiken. Die „Praxen der Kategorisierung, Beobachtung, Verfolgung und Kriminalisierung“ [13] von Sinti*zze und Rom*nja wurden somit auch nach dem Ende des Nationalsozialismus fortgeführt und auf „Schwarze, migrantische und als muslimisch gelesene Menschen, und […] geflüchtete Menschen“ [14] ausgeweitet. Diese nationalsozialistischen Kontinuitäten der polizeilichen Perspektive auf Rom*nja und Sinti*zze [15] lassen sich auch an den polizeilichen Ermittlungspraxen der NSU-Morde erkennen. Rom*nja und Sinti*zze wurden in diesem Zusammenhang ohne einen konkreten Verdacht zur Zielscheibe der Ermittlungen, da sich eine Gruppe von ihnen einmal im Umkreis eines Tatorts aufhielt [16]. Zudem wurden die Familienangehörigen der Opfer des NSU systematisch verdächtigt die Morde begangen zu haben, da die Polizei in ihrer rassistischen Perspektive davon ausging, es handle sich um Morde innerhalb von türkischen Communities. Rechtsextremismus wurde als Tatmotiv ausgeschlossen [17]. 
Deutlich wird hier die Verbindung der modernen deutschen Polizei zum Nationalsozialismus und Kolonialismus. Somit können diese „polizeilichen (Nicht-)Verfolgungsmuster“ [18] als aktuelle und historisch aus dem Kolonialismus und Nationalsozialismus übernommene Praxis verstanden werden [19]. 

Sicherheits- und Polizeipraktiken im Globalen Süden

Darüber hinaus sind Gebiete und Gesellschaften im Globalen Süden nach wie vor von deutschen Sicherheits- und Polizeipraktiken betroffen. Durch Waffenlieferungen sowie durch die Polzeiausbildung in Krisenregionen profitiert Deutschland mit seinem industriellen Sicherheits- und Polizeikomplex von postkolonialen Abhängigkeiten. Einerseits ist Deutschland seit einigen Jahren der viertgrößte Waffenexporteur der Welt und liefert Waffen an Polizei, Militär und Sicherheitskräfte in unterschiedlichste Krisenregionen [20]. Andererseits ist die deutsche Polizei im Rahmen verschiedenster Mandate selbst im Ausland tätig. Besonders bedeutend vor dem Hintergrund kolonialer Kontinuitäten sind dabei die Einsätze an den EU-Außengrenzen und den Regionen, die als Transitgebiete für illegalisierte Migrant*innen und Flüchtende dienen [21][22]. Hier wird die Aufrechterhaltung kolonialer Machtverhältnisse und der von Fanon benannten ‚Trennungslinie‘ durch den Export von „Kategorisierungs-, Sicherheits-, Überwachungs- und Kontrolltechniken“ [23] besonders deutlich. Auch in weiteren Gebieten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas ist die deutsche Polizei immer wieder an der Ausbildung und Koordinierung lokaler Polizeikräfte beteiligt [24].Für großes internationales Aufsehen hat beispielsweise die Ermordung von Marielle Franco in Brasilien vor drei Jahren gesorgt. Die Schwarze, sozialistische und bisexuelle Politikerin sowie ihr Fahrer wurden am 14. März 2018 in Rio de Janeiro von ehemaligen Militärpolizisten mit Maschinengewehren des deutschen Waffenherstellers Heckler & Koch ermordet. Marielle Franco hatte sich zuvor aktiv gegen die Ausweitung der Militärbefugnisse in den marginalisierten Wohnvierteln (Favelas) gewandt und die rassistischen Praktiken sowie die systematische Ermordung Schwarzer Brasilianer*innen angeprangert. Die brasilianische Militärpolizei wurde noch wenige Jahre zuvor von Ausbildern der deutschen Polizei trainiert. [25] Der industrielle Sicherheits- und Polizeikomplex Deutschlands ist hier also doppelt verwantwortlich: als Ausbilder und als Waffenlieferant.

Rassistische moderne Polizeiarbeit: das erste Polizeirevier in Frankfurt

Während diese postkolonialen Verstrickungen sichtbar gemacht werden müssen, sehen wir vor Ort in Frankfurt mit dem ersten Polizeirevier der Stadt ein besonders perfides und lokales Beispiel der rassistischen modernen Polizeiarbeit. Das Revier befindet sich auf der Zeil in unmittelbarer Nähe zur Station Konstablerwache und ist für die Frankfurter Innenstadt zuständig. Bekannt ist es in Frankfurt für seine rassistische und gewaltvolle Praxis. Rassistische Polizeikontrollen gegen Schwarze und migrantisierte Jugendliche, für welche die Zeil und die Frankfurter Innenstadt ein Ort des Zusammenkommens ist, sind alltäglich. Sie werden hier regelmäßig kontrolliert, schikaniert und sind physischer Gewalt ausgesetzt [26]. Bekannt wurde das erste Revier durch seine Rolle im NSU 2.0. Seda Başay-Yıldız, eine Frankfurter Rechtsanwältin, die auch die Angehörigen des NSU Opfers Enver Şimşek vertrat, erhielt am 28. August 2018 eine Morddrohung mit der Unterzeichnung NSU 2.0 per Fax. Die Drohung enthielt personenbezogene Daten, die der Öffentlichkeit nicht bekannt waren. Darunter fällt der Name der Tochter – die Morddrohung wurde auch gegen diese gerichtet – und die Privatadresse von Başay-Yıldız. Ihre Daten wurden eine Stunde zuvor illegal von einem Polizeicomputer des ersten Reviers abgerufen. Illegal bedeutet, dass keine juristische oder ermittlungstechnische Berechtigung vorlag. Zu dem Computer hatten nur sechs Beamte Zugang, aufgeklärt werden konnte dennoch bis heute nicht, wer die Daten abgerufen hat [27] [28]. Es ist darauf zu verweisen, dass die Polizei ihre eigene Kontrollinstanz ist. Das bedeutet, dass Polizist*innen sind, die sich gegenseitig kontrollieren – eine Praxis, die von Menschenrechtsorganisationen immer wieder zurecht kritisiert wird [29]. So ist es wenig überraschend, dass der*die Täter*in nicht gefunden wurde. Was allerdings im Zuge der Ermittlungen aufgedeckt werden konnte ist eine rechtsextreme Chatgruppe von fünf Polizist*innen des ersten Reviers. Geteilt wurden Naziparolen, Hakenkreuze und ähnliches [30]. Drohschreiben bekommt Başay-Yıldız seitdem immer wieder. Geschützt wird sie von der Polizei nach eigener Aussage nicht. Zudem wurden mehr als 100 weitere solcher rechtsextremistischen Drohungen verschickt. Adressat*innen sind vor allem Frauen, die sich gegen Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus einsetzen. Prominente Beispiele sind die Frankfurter Comedian Idil Baydar und die Linken-Politikerin Janine Wissler. Auch hier wurden die Daten von hessischen Polizeicomputern abgerufen, aus Wiesbaden und wieder aus Frankfurt. Ermittelt werden konnte bis jetzt kein*e einzige*r Täter*in [31]. 

Racial Profiling in der Frankfurter Innenstadt

Die Verstrickungen in den NSU 2.0 sind bei weitem nicht der einzige Vorfall rassistischer Praxis des ersten Reviers. Im Sommer 2020 wurde in Folge der Auseinandersetzung am Frankfurter Opernplatz wochenlang massives Racial Profiling in der Frankfurter Innenstadt praktiziert. Der Opernplatz ist traditionell Treffpunkt weißer, reicher Menschen. Seit Beginn der Corona-Pandemie und den damit verbundenen öffentlichen Einschränkungen trafen sich dort vermehrt auch Personen, die aufgrund ihres Aussehens von der weißen Mehrheitsgesellschaft als Migrant*innen oder Nicht-Deutsche gelesen werden, unabhängig ihres tatsächlichen Status. Im Zuge dessen wurde die Polizeipräsenz am Opernplatz massiv ausgeweitet, was dazu führte, dass migrantisierte Personen an diesem Ort zunehmend kontrolliert wurden. Gleichzeitig konnten weiße Personen sich sowohl auf dem Opernplatz als auch dem Friedbergerplatz, einem weiteren Treffpunkt mehrheitlich weißer, gutbürgerlicher Menschen, ungestört versammeln. Nachdem es am 19. Juni zu einer Schlägerei auf dem Opernplatz kam, wurde die Polizei mit Flaschen beworfen und eine Bushaltestelle beschädigt [32].Im Anschluss an die Vorfälle wurden ab 24 Uhr Betretungsverbote für den Opernplatz ausgesprochen, die Polizei hat diesen ab 23:30 geräumt und durchgehend massiv poliziert [33]. Dieses massive Polizieren von migrantisierten Jugendlichen wurde auf die gesamte Frankfurter Innenstadt, das Einsatzgebiet des ersten Reviers, und den öffentlichen Nahverkehr ausgeweitet. Die Innenstadt wurde so zum Angstraum für als migrantisch gelesene Jugendliche. Weiße Personen wurden kaum kontrolliert [34]. Die Kontrollen waren so massiv, dass die Praxis Police the Police von Betroffenen sowie solidarischen Menschen eingeführt wurde [35]. Die aus den USA stammende Methode des Widerstands bezeichnet die Kontrolle und Dokumentation von Polizeigewalt durch Aktivist*innen. Dennoch wurde das Racial Profiling von Seiten der Polizei und Stadt geleugnet und als Generalverdacht gegenüber Polizist*innen bezeichnet. Copwatch Frankfurt schreibt hierzu: „Die Behauptung eines Generalverdachts gegen die Polizei ist zynisch, da Racial Profiling genau auf einem solchen Generalverdacht gegen Schwarze und Personen of Color aufbaut. Die Opferposition, die die Polizei hier für sich beansprucht, ist absurd angesichts der Macht, die die Polizei innehat.“ [36] Die gesamte Frankfurter Innenstadt wurde so in Folge der Vorfälle am Opernplatz als gefährlicher Ort deklariert. Gefährliche Orte sind Orte, an denen die Polizei verdachtsunabhängige Kontrollen durchführen darf. Festlegen tut sie diese Orte selber. Öffentlich zugänglich sind Informationen, welche Orte von der Polizei als gefährlich markiert werden, nicht. Laut Antworten auf kleine Anfragen der Linken besitzen selbst parlamentarische Vertreter*innen diese Informationen nicht [37].  Die Kontrollen an den sogenannten gefährlichen Orten werden auf Basis von Racial Profiling ausgeführt. Antirassistische Organisationen und Initiativen fordern schon seit langem die Abschaffung der rassistischen Praxis der illegitimen Ausrufung von gefährlichen Orten und die damit verbundenen Befugnisse und rassistischen Kontrollen.Die kolonialen Kontinuitäten des ersten Reviers werden durch die rassifizierten Kontrollen der Polizei anhand der Praxis von Racial Profiling und den massiven Bewegungseinschränkungen von Personen of Color durch die Versammlungsverbote am Opernplatz sowie die Kontrollen in der gesamten Innenstadt deutlich. Es ist zudem wichtig zu betonen, dass die Vorfälle des NSU 2.0 und des Opernplatz zwar extreme Beispiele von rassistischem Polizieren darstellen, diese aber bei Weitem keine Ausnahme darstellen. Migrantisierte Personen werden alltäglich und mit Kontinuität durch Stellen wie das erste Revier und der Institution Polizei als Gesamtes kriminalisiert und erfahren Gewalt. Diese hört auch nicht unmittelbar nach der Kontrolle auf. Stattdessen kommen auf Betroffene langanhaltende psychologische, physische und finanzielle Einschränkungen zu, die auf die Polizeigewalt und eventuelle juristische Verfahren als Reaktion auf diese folgen. Häufig werden auch Familienangehörige kriminalisiert, wenn sie gegen die Gewalt protestieren. Polizeigewalt ist somit transtemporal, transsubjektiv und damit eine langsame Form von Gewalt, deren Auswirkungen kaum Aufmerksamkeit finden [38].

Alternativen zum Polizeisystem

Wie die Praktiken und Vorfälle des ersten Reviers in Frankfurt zeigen bietet die Polizei keine Sicherheit für marginalisierte Subjekte – stattdessen bewirkt sie genau das Gegenteil. Dass dies passiert ist nicht auf einige Funktionsfehler der Polizei zurückzuführen, sondern beruht auf der inhärenten Logik der Polizei und ist somit gewollt. Die Polizei beruht auf kolonialen Praxen, die geschaffen wurden, um weiße Vorherrschaft aufrecht zu erhalten. Aufgrund der Logik der Polizei, ihren kolonialen Kontinuitäten und der daraus gewachsenen Struktur wird eine Reformierung der Polizei rassistische Polizeipraktiken nicht abschaffen können. Zielführend ist nur die langfristige Abschaffung der Polizei sowie die Entwicklung von Alternativen zu Polizei und Strafjustiz. Die Polizei abzuschaffen erscheint erst einmal unmöglich. Es hilft hier sich vor Augen zu führen, dass die Polizei an einem bestimmten historischen Punkt entstanden ist, um auf soziale Bedingungen zu reagieren. Somit kann sie auch durch sozialen Wandel abgeschafft werden [39]. Unmöglich erscheint die Abschaffung der Polizei aber auch, da sie einige gesellschaftliche Aufgaben übernimmt, die vom Großteil der Bevölkerung als relevant angesehen werden und der Polizei Legitimität verleihen – und zwar den Schutz vor Verbrechen [40]. Somit muss ein neues System geschaffen werden, welches vor Verbrechen schützt und welches besser und deutlich effektiver als die Polizei ist. Das heißt gerechter, ohne Schikane und im Einklang mit den Menschenrechten. Die Aufgabe muss vom Staat zur Bevölkerung verschoben werden [41].Besonders von mehrfachmarginalisierten Gruppen, wie INCITE, eine Initiative von Feministinnen of Color aus den USA, wurden in den letzten Jahren aufbauend auf indigenen Wissensbeständen Konzepte und Methoden wie Transformative Justice und Community Accountability entwickelt, die eine Alternative zur Polizei darstellen. Diese abolitionistischen Konzepte basieren auf der Verantwortungsübernahme und dem füreinander Sorgen, sowohl bei Polizeigewalt als auch bei Gewalt innerhalb von Communities [42]. Community Accountability umfasst dabei vier Ebenen. Erstens, die Unterstützung der Heilung für von Gewalt betroffenen Personen. Zweitens, die Begleitung der Transformation des*der Täter*in und Verantwortungsübernahme. Drittens, Community Normen und Praxen auf gesellschaftlicher Ebene zu verändern, damit bei Gewalt innerhalb von Communities gehandelt wird und diese nicht ignoriert wird. Und viertens, auf struktureller Ebene die gesellschaftlichen Bedingungen für Gewalt und Ungleichheit politisch zu verändern. Ein wichtiger Teil davon ist der Ansatz Defund the Police. Ressourcen sollen von der Polizei abgezogen werden und in Institutionen sozialer Gerechtigkeit verschoben werden, um soziale Ungleichheiten zu vermindern. Die Idee dahinter ist, dass durch eine Abnahme von struktureller Gewalt Verbrechen, wie armuts-, drogen-, krisen- und psychologisch bedingte Delikte stark reduziert werden. Es muss somit das Ziel sein, die Produktion von Unsicherheit und Krise im vergeschlechtlichen, rassifizierten Kapitalismus durch strukturelle Transformation zu durchbrechen, um Gewalt zu verhindern [43].

  1. Loick, Daniel (2018): Was ist Polizeikritik? In: Loick, Daniel: Kritik der Polizei. Frankfurt am Main: Campus Verlag, S. 9.
  2. ebd. 10
  3. ebd.
  4. ebd. 12
  5. ebd. 16
  6. Thompson, Vanessa (2018): „There is no justice, there is just us” Ansätze zu einer postkolonial-feministischen Kritik der Polizei am Beispiel von Racial Profiling. In: Loick, Daniel: Kritik der Polizei. Frankfurt am Main: Campus Verlag, S. 201.
  7. Fanon, Franz (1981): Die Verdammten dieser Erde. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 31-32.
  8. Thompson, Vanessa (2018): „There is no justice, there is just us” Ansätze zu einer postkolonial-feministischen Kritik der Polizei am Beispiel von Racial Profiling. In: Loick, Daniel: Kritik der Polizei. Frankfurt am Main: Campus Verlag, S. 202.
  9. Melter, Claus (2017): Koloniale, nationalsozialistische und aktuelle rassistische Kontinuitäten in Gesetzgebung und der Polizei am Beispiel von Schwarzen Deutschen, Roma und Sinti. In: Fereidooni, Karim/El, Meral (2017): Rassismuskritik und Widerstandsformen. Wiesbaden: Springer VS, S. 589-612), S. 593.
  10. Müller, Michael (2012): Polizei und (post)-koloniales Regieren. Eine Einleitung. In: Zeitschrift für Globalgeschichte und vergleichende Gesellschaftsforschung 22 (3), S. 13
  11. Loick, Daniel/Thompson, Vanessa (2020): Wir müssen uns aus dem polizeilichen Blick herausarbeiten. In: Analyse und Kritik. Online: https://www.akweb.de/bewegung/rassismus-und-die-identifikation-mit-dem-blick-der-polizei/.
  12. Melter, Claus (2017): Koloniale, nationalsozialistische und aktuelle rassistische Kontinuitäten in Gesetzgebung und der Polizei am Beispiel von Schwarzen Deutschen, Roma und Sinti. In: Fereidooni, Karim/El, Meral (2017): Rassismuskritik und Widerstandsformen. Wiesbaden: Springer VS, S. 589-612), S. 589-590.
  13. ebd.: 590
  14. Loick, Daniel/Thompson, Vanessa (2020): Wir müssen uns aus dem polizeilichen Blick herausarbeiten. In: Analyse und Kritik. Online: https://www.akweb.de/bewegung/rassismus-und-die-identifikation-mit-dem-blick-der-polizei/.
  15. Loick, Daniel/Thompson, Vanessa (2020): Wir müssen uns aus dem polizeilichen Blick herausarbeiten. In: Analyse und Kritik. Online: https://www.akweb.de/bewegung/rassismus-und-die-identifikation-mit-dem-blick-der-polizei/.
  16. Melter, Claus (2017): Koloniale, nationalsozialistische und aktuelle rassistische Kontinuitäten in Gesetzgebung und der Polizei am Beispiel von Schwarzen Deutschen, Roma und Sinti. In: Fereidooni, Karim/El, Meral (2017): Rassismuskritik und Widerstandsformen. Wiesbaden: Springer VS, S. 589-612), S.590
  17. ebd.
  18. ebd.: 593
  19. ebd.
  20. SIPRI (2020): SIPRI Yearbook 2020: Armaments, Disarmament and International Security. Summary. Online: https://www.sipri.org/sites/default/files/2020-06/yb20_summary_en_v2.pdf, S. 13.
  21. Schmidt, Joel (2021): Frontex und die EU-Außengrenzen: Abgeordnete fordern Aufklärung über Pushbacks. In: Frankfurter Rundschau. Online: https://www.fr.de/politik/frontex-pushbacks-eu-europaeische-union-aussengrenzen-migration-gefluchetete-asyl-aufklaerung-kritik-lesbos-90168038.html.
  22. Jakob, Christian (2014): Deutsche Polizei in Libyen: Grenzsicherung ohne Menschenrechte. In: taz. Online: https://taz.de/Deutsche-Polizei-in-Libyen/!5045213/.
  23. Thompson, Vanessa (2018): „There is no justice, there is just us” Ansätze zu einer postkolonial-feministischen Kritik der Polizei am Beispiel von Racial Profiling. In: Loick, Daniel: Kritik der Polizei. Frankfurt am Main: Campus Verlag, S. 201.
  24. Pöhle, Sven (2014): Deutsche Polizisten im Auslandseinsatz. In: Deutsche Welle. Online: https://www.dw.com/de/deutsche-polizisten-im-auslandseinsatz/a-17537716
  25. Niklas Franzen (2018): Schon wieder Heckler & Koch. Deutsche Waffe tötete linke Stadträtin in Rio de Janeiro. In: Rosa-Luxemburg-Stiftung. Online: https://rosalux.org.br/de/deutsche-waffe-toetete-linke-stadtraetin-in-rio-de-janeiro/.
  26. Copwatch Frankfurt (2018): Redebeitrag 22.12.2018: „Gemeint sind wir alle!“ Gegen Rechte Brandstifter_innen am Schreibtisch und auf der Straße. Online: https://copwatchffm.org/?p=340.
  27. Hessenschau (2020): Bedrohte Anwältin Basay Yildiz erwägt doppelte Belohnung.Online: https://www.hessenschau.de/gesellschaft/nsu-20-affaere-bedrohte-anwaeltin-basay-yildiz-erwaegt-doppelte-belohnung,basay-yildiz-drohschreiben-belohnung-100.html
  28. Ramelsberger, Annette (2020): „Ich kann doch nicht Däumchen drehen und warten bis uns jemand abknallt“.In: Süddeutsche Zeitung. Online: https://www.sueddeutsche.de/politik/rechtsextremismus-nsu-2-0-seda-basay-yildiz-1.5122351.
  29. Bosch, Alexander/Grutzpalk, Jonas (2015): Kontrolle der Polizei. In: Bundeszentrale für politische Bildung: Dossier Innere Sicherheit. Online: https://www.bpb.de/politik/innenpolitik/innere-sicherheit/201425/kontrolle-der-polizei.
  30. Voigts, Hanning/Bebenburg, Pitt (2019): NSU 2.0 – der hessische Polizeiskandal. In: Frankfurter Rundschau.Online: https://www.fr.de/politik/nsu-2-0-hessischer-polizeiskandal-13007631.html.
  31. [27] Hessenschau (2020): Bedrohte Anwältin Basay Yildiz erwägt doppelte Belohnung.Online: https://www.hessenschau.de/gesellschaft/nsu-20-affaere-bedrohte-anwaeltin-basay-yildiz-erwaegt-doppelte-belohnung,basay-yildiz-drohschreiben-belohnung-100.html
  32. Toth, Teresa/Wetzel, Isabel (2020): Krawall am Opernplatz. Stadt und Polizei ziehen drastische Konsequenzen.In: Frankfurter Neue Presse. Online: https://www.fnp.de/frankfurt/frankfurt-opernplatz-randale-live-ticker-pressekonferenz-pk-polizeipraesidenten-vertreter-stadt-zr-90010959.html.
  33. ebd.
  34. Copwatch Frankfurt (2020): Stellungnahme Opernplatz 08.08.2020. Online: https://copwatchffm.org/?p=384.
  35. ebd.
  36. ebd.
  37. Scheuermann, Fabian (2020): Beschwerden wegen Racial Profiling. In: Frankfurter Rundschau. Online: https://www.fr.de/rhein-main/offenbach-beschwerden-wegen-racial-profiling-90047786.html.
  38. Thompson, Vanessa (im Erscheinen, 2020). Policing Difference, Feminist Oblivions and the (Im-)Possibilities of Intersectional Abolition. In: Ch. Binswanger, A. Zimmermann: Transitioning to Gender Equality. Genf: MDPI Books, S. 5.
  39. Williams, Kristian (2018): Die Polizei überflüssig machen. In: Loick, Daniel: Kritik der Polizei. Frankfurt am Main: Campus Verlag, S. 298.
  40. ebd. 300
  41. ebd. 301
  42. Thompson, Vanessa (2018): „There is no justice, there is just us” Ansätze zu einer postkolonial-feministischen Kritik der Polizei am Beispiel von Racial Profiling. In: Loick, Daniel: Kritik der Polizei. Frankfurt am Main: Campus Verlag, S. 214.
  43. Brazzell, Melanie/Thompson, Vanessa (2021): “Defund the Police”: Eine Welt ohne Polizei – geht das?. In: Ondreka, Lukas: Dissens Podcast. Online: https://open.spotify.com/episode/0b0YNXlX2vKiPfHAS17ChI?si=I74E3xhTTyi_BwJJSkRK6Q

Offener Brief zum Projekt „Orte der Demokratiegeschichte“ / „100 Köpfe der Demokratie“

Im bundesweiten Decolonize-Bündnis haben wir gemeinsam einen offenen Brief an die Verantwortlichen des Projektes „Orte der Demokratiegeschichte“ / „100 Köpfe der Demokratie“ verfasst:


An:
Prof. Monika Grütters, Staatsministerin, Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, MdB Arbeitsgemeinschaft „Orte der Demokratiegeschichte“ und ihre Mitglieder
Sprecher:innenrat der Arbeitsgemeinschaft „Orte der Demokratiegeschichte“

Offener Brief zum Projekt
„Orte der Demokratiegeschichte“ / „100 Köpfe der Demokratie“


Sehr geehrte Frau Staatsministerin Prof. Grütters, Sehr geehrte Damen und Herren,

wir kritisieren die unreflektierte und unsensible Darstellung von (Erinnerungs-)Orten („Orte der Demokratiegeschichte“) und Personen („100 Köpfe der Demokratie“) aus einer de- und postkolonialen Perspektive. Sie zeugt mehr als deutlich von einer (post)kolonialen Amnesie unter Politiker:innen, Wissenschaftler:innen, Entscheidungsträger:innen und in unserer Gesellschaft, gekennzeichnet durch ein (unbewusstes und bewusstes) Verdrängen des deutschen Kolonialismus und eine deutschzentrierte Erinnerungspolitik und -kultur.

Im Koalitionsvertrag der Regierungsparteien aus dem Jahr 2018 steht: „zum demokratischen Grundkonsens in Deutschland gehören die Aufarbeitung der NS-Terrorherrschaft und der SED- Diktatur, der deutschen Kolonialgeschichte, aber auch positive Momente unserer Demokratie- geschichte.“ Das erstmalige Bekenntnis zur Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte begrüßen die Unterzeichnenden im bundesweiten Decolonize-Bündnis grundsätzlich. Doch diesem Grundkonsens scheint ein befremdliches Geschichtsverständnis zugrunde zu liegen, der sich auch in Ihrem o.a. Projekt zur Demokratiegeschichte widerspiegelt. Danach wird die deutsche Kolonialgeschichte in ein negatives Opfer-Täter-Narrativ eingebettet. Damit wird vergessen gemacht/verdrängt, dass sie von Anfang an vom antikolonialen Widerstand begleitet war, ob innerhalb der deutschen Grenzen oder in den ehemals kolonisierten Ländern, in denen seine Protagonist:innen bis heute gewürdigt werden. Diese Persönlichkeiten kämpften gegen das koloniale Unrecht und trugen damit maßgeblich zur Demokratieentwicklung des imperialen Deutschlands bei. Ebenso unverständlich ist in Ihrem Projekt die ungefragte Aneignung jüdischer Biografien, während offensichtlich keine jüdischen Stiftungen und Kulturinstitutionen zur Teilnahme an Ihrem Projekt eingeladen sind. Dass geschichtliche Ereignisse nie nur „positiv“ oder „negativ“ beurteilt werden können, zeigt beispielhaft Ihre eigene Auswahl von höchst ambivalenten historischen Orten und Akteur:innen, wie wir im Folgenden ausführen werden.

Zunächst möchten wir unserer Sorge Ausdruck verleihen, wie und welche Bauwerke als „Orte der Demokratiegeschichte“ deutschlandweit ausgewählt werden. Das Projekt habe das Ziel, „die Wahrnehmung der deutschen Demokratie- und Freiheitsgeschichte lokal, regional und deutschlandweit zu fördern und darüber demokratische Teilhabe und Zivilcourage anzuregen“. Allerdings sehen wir dabei die Gefahr, dass gerade auch jene Orte, Gebäude und Denkmäler ausgewählt werden, die Teil eines Trends zur „Rekonstruktionsarchitektur“ sein könnten. Mit diesem Begriff bezeichnet Stephan Trüby, Professor für Architektur an der Universität Stuttgart, architektonische oder städtebauliche Versuche, die nationale Vergangenheit in ein positives Geschichtsbild zu stellen und sie ihrer historischen Widersprüchlichkeit zu entledigen. Vor allem zeichnet sich diese„Rekonstruktionsarchitektur“ auch dadurch aus, dass sie von rechten bis rechtsextremen politischen und gesellschaftlichen Kräften angestoßen und gefördert wird. Dadurch wirdausgehend vom rechtsnationalistischem Rand gezielt versucht, gesellschaftlichen und städtebaulichen Konsens herzustellen. Dazu zählen unter anderem die Projekte des Wiederaufbaus der Frankfurter Altstadt, der Potsdamer Garnisonskirche oder des Berliner Stadtschlosses.

Gerade die zentrale Rolle, welche die Frankfurter Paulskirche in dem Projekt„Orte der Demokratiegeschichte“ / „100 Köpfe der Demokratie“ einnehmen soll, sehen wir äußerst kritisch. Ohne Zweifel hat die Paulskirche als Tagungsort der Nationalversammlung im 19. Jahrhundert einen bedeutenden Symbolwert für die demokratische Tradition in Deutschland. Allerdings ist diese Tradition eindeutig verwoben mit einem entstehenden expansionistischen und kolonialismusfreundlichen politischen Grundkonsens der großbürgerlichen und adligen Teilnehmenden aus Politik und Kaufmannschaft. So hat sich in der Nationalversammlung eine überwältigende und parteiüber- greifende Mehrheit für die Errichtung einer deutschen Seeflotte als auch für die Förderung deutscher Auswanderung in zu errichtende überseeische Kolonien ausgesprochen. Dadurch muss die Paulskirche als Ort der ersten deutschen Nationalversammlung zugleich als Gründungsort und – moment deutscher Kolonialgeschichte verstanden werden. Die Debatten zur Errichtung einer Seeflotte und zur deutschen Auswanderung stehen dabei repräsentativ für die sich verfestigenden nationalistischen Vorstellungen zur Rolle eines vereinten Deutschlands, das seine politischen und ökonomischen Interessen weltweit kolonial durchsetzen wollte.

Wir kritisieren auch den Plan, den Originalzustand der Paulskirche wiederherzustellen, denn diese Architektur ist geradezu ein Sinnbild eingebauter Geschlechterungleichheit: Separiert von der männlich dominierten Nationalversammlung mussten Frauen auf der hölzernen Empore stehen, weil sie kein Stimmrecht hatten. Auch die geplante Sanierung der Paulskirche sehen wir problematisch und schließen uns der Kritik des Landesdenkmalrates und des Architekturtheoretikers Philipp Oswalt an. Diese geplante Sanierung würde die Rekonstruktion der Paulskirche von 1948 als postfaschistisches Denkmal überschreiben.

Für Ihr Projekt „Orte der Demokratiegeschichte“ fordern wir, dass

  • eine interkulturelle Rahmung der Paulskirche als Gedenkort zu erarbeiten ist, welche die Paulskirche als Ausgangspunkt expansiver Ziele, die für „Drang-nach-Osten“-Mentalitäten, militaristisches Säbelrassen und eine koloniale Agenda standen, umfangreich und unvoreingenommen aufarbeitet.
  • auch selbstorganisierte Räume und Orte von migrantischen und BIPoC-Personen gefördert werden, die sich für Demokratie und gegen Rassismus engagieren, wie z.B. der Gedenkort der „Initiative 19. Februar Hanau“.
  • generell Orte der Schwarzen und PoC-Geschichte in Deutschland markiert und vermittelt werden. Diese Orte sind in der bisherigen deutschen Erinnerungskultur unbeachtet geblieben.

Wir kritisieren auch das Teilprojekt „100 Köpfe der Demokratie“ in der vorgesehenen Form. Laut Selbstverständnis hat das Vorhaben „die große Bandbreite demokratischen Handelns und Wirkens in zwei Jahrhunderten vor Augen“. Es sind „Männer und Frauen, die sich für die Demokratie in ihren verschiedenen Formen, für die Verwirklichung von Partizipation möglichst breiter Kreise der Bevölkerung eingesetzt haben“. Zunächst zeigen wir uns bezüglich der zeitlichen und räumlichen Rahmung bestürzt. Sie öffnen ein 200-jähriges Zeitfenster demokratischer Traditionen innerhalb der Nationalgrenzen Deutschlands, dabei offensichtlich vergessend und/oder verdrängend, dass diese Zeitepoche vom Hochimperialismus deutscher Prägung gekennzeichnet war, die weit über die formale deutsche Kolonialzeit hinausgeht und die sich bis heute auswirkt. Der Kolonialismus der Kaiserzeit war geprägt von Unrecht bis hin zu Genoziden an der kolonisierten Bevölkerung in den deutschen „Schutzgebieten“. Die Demokratiegeschichte Deutschlands kann nicht als Nationalgeschichte in einer damals längst globalisierten Welt verstanden werden.

Ebenso kritisieren wir Ihre Auswahl der online vorgestellten Biographien als Beispiele für „demokratisches Handeln und Wirken“. Jeder Mensch hat Licht- und Schattenseiten, auch diejenigen, die für Demokratie und Menschenrechte kämpften. Doch Sie wollen Menschen würdigen, die auf Ihrer Liste zugleich als „umstritten“ gelten. Vielfach bagatellisieren die von Ihnen verfassten Biographienteilweise hochproblematische Seiten der ausgewählten „Demokratieköpfe“ und übergehen zugleich undemokratische Perioden der deutschen Geschichte. So finden sich auf Ihrer Webseite Personen, die für Imperialismus, Antisemitismus und Kolonialrassismus stehen.

  • Besonders befremdend ist es, Rudolf Virchow auf Ihrer Liste zu finden, der nach Ihrer Auffassung für „medizinische Ethik für Gleichstellung“ stehe. Unerwähnt bleiben dabei seine kolonialmedizinischen Menschenversuche, rassistischen Schädelvermessungen und unethischen Sammlungen von geraubten human remains aus allen Ländern der Welt.
  • Wolf von Baudissin wird bei Ihnen aufgrund seiner „bewussten Abkehr von deutschen Militärtraditionen“ gewürdigt, obwohl er nicht nur elf Jahre im Dienst der Reichswehr stand, sondern im Zweiten Weltkrieg auch als hochrangiger Offizier im Afrikakorps unter Erwin Rommel stand und am Afrikafeldzug teilnahm.
  • In Ihrer Darstellung scheint das kolonialrevanchistische Engagement Konrad Adenauers als Vizepräsident der Deutschen Kolonialgesellschaft keine Rede wert zu sein. Vergessen auch, dass es gerade Adenauer war, der nach dem Krieg ehemaligen NS-Größen in Spitzenpositionen verhalf.
  • Unerwähnt bleiben auch die imperialen Ansichten von Friedrich Naumann und Max Weber. Von letzterem stammt der bekannte Satz „Wir müssen begreifen, dass die Einigung Deutschlands ein Jugendstreich war, den die Nation auf ihre alten Tage beging und seiner Kostspieligkeit halber besser unterlassen hätte, wenn sie der Abschluss und nicht der Ausgangspunkt einer deutschen Weltmachtpolitik sein sollte“.
  • Einzig bei Gustav Stresemann findet sich ein zögerlicher Halbsatz über dessen außenpolitisch imperiales Streben. Doch angesichts der Tragweite seiner Ansichten als Mitglied des extrem antisemitischen, völkischen und expansiven Alldeutschen Verbandes, seiner Forderung nach einem deutschen „Engagement“ in Marokko oder seiner kolonialrevanchistischen Ansichten in der Weimarer Republik gehört auch Stresemann nicht auf die Liste von „Demokratieköpfen“.
  • Doch nicht nur Adenauer und Stresemann stehen für koloniale Kontinuitäten. In der Bundesrepublik war es explizit Franz-Josef Strauß, der in zahlreiche (postkoloniale) Korruptionsskandale verwickelt war,u.a. in Waffengeschäfte mit undemokratischen Staaten. Insbesondere seine Komplizenschaft mit dem Apartheidstaat Südafrika sticht heraus wie seine rassistische Anmerkung, dass die Gleichstellung Schwarzer Südafrikaner:innen „nicht wünschenswert“ sei. Die demokratiefeindliche Gesinnung von Strauß lässt sich auch an seiner unverhohlenen Sympathie für den chilenischen Diktator Augusto Pinochet ablesen wie auch an seinem repressiven Verhalten gegen die Anti-Atombewegung in Bayern.
  • Wir protestieren gegen den höchst widersprüchlichen Charakter Ihrer Auswahl der „Demokratieköpfe“. In dieser werden auf sehr problematische Art und Weise politische Antagonisten aneinandergereiht. Dies zeigt sich beispielhaft im Nebeneinander von Konrad Adenauer und Fritz Bauer. Während Adenauer im Nachkriegsdeutschland NS-Verbrecher nicht nur rehabilitierte, sondern proaktiv in Amt und Würden verhalf, bekämpfte Fritz Bauer gerade diese Staatsräson der Straffreiheit und Amnesie.

Angesichts der nicht vom Antisemitismus freien Historie der ersten deutschnationalen Demokratiebestrebungen und insbesondere der gewaltsamen deutschen NS-Geschichte des 20. Jahrhunderts stehen jüdische Biographien nicht ungefragt zur Verfügung, schon gar nicht für eine solche unreflektierte Auswahl von „Demokratieköpfen“. Die jüdischen Biographien lassen sich nicht in eine homogen deutschnational verstandene „Demokratietradition“ nach Ihrem Gusto einverleiben. Wir widersprechen entschieden gegen diese Art von eigenmächtiger Aneignung.

Demokratie kann nur durch die gesellschaftliche und politische Teilhabe aller Bevölkerungsteile gelingen. Wir sind schockiert über die durchgängige Ausblendung von (post)migrantischen oder BIPoC-Biographien in Ihrem Projekt. Ebenso sind wir höchst irritiert über die offenkundige Abwesenheit von Kulturinstitutionen, Stiftungen, Gedenkstätten und Museen von marginalisierten BIPoC-Minderheiten (u.a. das DOMID-Museum, das Jüdische Museum, das RomArchive u.v.m.) in Ihrem Projekt.

Damit wird auch vergessen gemacht, dass Schwarze und afrikanische Persönlichkeiten innerhalb der Grenzen des Wilhelminischen Kaiserreichs und Deutschlands gegen das koloniale Unrecht und für Demokratie kämpften. Dabei reicht die – auch hier ungefragte – Aufnahme der Schwarzen deutschen Aktivistin, Wissenschaftlerin und Dichterin May Ayim als einzelnes token in Ihrer Liste nicht.Unerwähnt bleiben Persönlichkeiten im antikolonialen Widerstand, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts hierzulande aktiv waren wie Mpundu AkwaAlfred BellMartin Dibobe, Hilarius Gilges, Fasia Jansen, Audre Lorde, Momolu MassaquoiGeorge Padmore, Gert Schramm, Mdachi bin Sharifu und viele mehr. Vollkommen übergangen sind ebenso Biographien von Menschen, die außerhalb der deutschen Grenzen gegen Kolonialismus und Nationalsozialismus kämpften und oft genug mit ihrem Leben bezahlen mussten. Die Abwesenheit ihrer Biographien ist symptomatisch für eine deutschzentrierte Perspektive und Geschichtsschreibung, Negierung transnationaler Geschichte, Missachtung der postmigrantischen deutschen Gesellschaft und der selbstorganisierten Kämpfe von BIPoC für ihre Emanzipation bis heute. Aus diesem Grund gibt es bisher in Deutschland auch keine postkolonialen Erinnerungsorte, die ihre Kämpfe gegen das (post)koloniale Unrecht würdigen. Für ihren antirassistischen, feministischen und intersektionalen Kampf und ihr großes Engagement in der Friedensarbeit müssen Persönlichkeiten wie Audre Lorde und Fasia Jansen explizit aufgeführt werden.

Für Ihr Projekt „100 Köpfe der Demokratie“ fordern wir, dass

  • die von Ihnen ausgewählten Biographien um entsprechende Beschreibungen ergänzt werden, welche die (neo)kolonialen, kolonialrassistischen und -revanchistischen Hintergründe im Leben dieser Personen explizit benennen.
  • Sie die aufgelisteten „Köpfe“ auf ihre Demokratiefähigkeit hin genauer überprüfen und notfalls entfernen.
  • Biographien von BIPoC-markierten Personen sowie von Personen mit Migrationsbiographie demografisch proportional aufgeführt werden.Über ein Drittel der heutigen Bevölkerung in Deutschland sind (Post-)Migrant:innen. Ihre Geschichte im Kampf für Demokratie, gegen Kolonialismus und Rassismus spiegelt sich in der Liste der „Demokratieköpfe“ nicht wider. Ihre „Köpfe der Demokratie“ sind eindeutig und unverhältnismäßig weiß (gelesene) Personen.

Befremdlich finden wir ebenso die Zusammensetzung der Arbeitsgemeinschaft „Orte der Demokratiegeschichte“. Ohne den Mitglieder:innen Expertise absprechen zu wollen, kann die Zusammensetzung als rein weiß (gelesenes) Gremium wohl kaum Ihren selbstdefinierten Zielen von „demokratische[r] Teilhabe und Zivilcourage“ entsprechen. Es stellt sich hier die Frage, wer Geschichte definieren und sprechen darf.

Für die Arbeitsgemeinschaft „Orte der Demokratiegeschichte“ fordern wir, dass

  • sie zu einem Drittel divers und interkulturell zusammengesetzt wird. Nur so kann sie die gesellschaftliche Struktur und die kulturelle Vielfalt in Deutschland widerspiegeln.

Irritierend auf Ihrer Projektwebseite ist auch der Text „Das deutsche Kolonialreich nach 1918: Trauma, Glorifizierung, Vergessen und spätes Erinnern“, der sich ausschließlich auf Literaturquellen weißer Autor:innen bezieht. Nicht nur, dass der Text gegenwärtig die einzige Abhandlung über die deutsche Kolonialherrschaft auf Ihrer Projektwebseite ist (und dazu schwer zu finden), sondern auch, dass sich darin zahlreiche bagatellisierende Stellen finden lassen. So hinterlässt der euro- und deutschzentrisch geprägte Text den Eindruck, der Beginn der deutschen Kolonialherrschaft im 19. Jahrhundert wäre aus einer Laune heraus entstanden, ohne auf die rhetorischen und praktischen Bemühungen der Kolonialpropagandisten (Stichwort: Paulskirche) in den Jahrzehnten zuvor einzugehen. Zudem reduziert der Text die Jahrhunderte währende Kolonialgeschichte in unzulässiger Weise auf 12 Jahre, die sich angesichts anderer historischer Ereignisse in der deutschen Geschichte „mit positiver Konnotation“ doch – so wird suggeriert – fast wie eine quantité négligeable lesen ließen. Die Nennung von „Kolonialkriegen“ statt Genozid und die Wortwahl von „eingeborenen Bevölkerungsschichten“, die vom kolonialen Unrecht „ein Lied singen können“ und von „afrikanisch-stämmige[n] Deutsche[n]“ stehen für Geschichtsvergessenheit und Rassismus. Aktuelle politische Interventionen wie die Umbenennung von kolonial belasteten Straßennamen, initiiert durch zivilgesellschaftliche Gruppen, werden in diesem Text zwar genannt, aber zu weiteren zentralen Forderungen, wie die bedingungslose Rückgabe von in der Kolonialzeit geraubten Kulturgütern, lassen sich im Text leider keine Aussagen finden. Im Gegenteil: Der Text arbeitet mit Diskreditierungen, darin werden die Forderungen und Interventionen der BIPoC- Communities als „Befindlichkeiten“ und „Aufgeregtheiten“ abgewertet.

Für Ihren Text über das deutsche Kolonialreich fordern wir, dass

  • der Text zur deutschen Kolonialherrschaft von einem Schwarzen, PoC und weißen Expert:innen-Team komplett überarbeitet wird.


Insgesamt ruft Ihr Projekt „Orte der Demokratiegeschichte“ / „100 Köpfe der Demokratie“ zur Kommentierung und Einspruch auf.

Wir fordern, dass

  • die „Orte der Demokratiegeschichte“ und die „100 Köpfe der Demokratie“ explizit auch auf ihre Widersprüchlichkeit hin beschrieben werden. Die problematischen historischen Verstrickungen sollen nicht verschwiegen werden.
  • die Demokratie anstatt aus der Vergangenheit heraus verteidigt und gefördert wird, ein konsequentes und entschlossenes Eintreten für einen demokratischen Grundkonsens, der sowohl antifaschistisch, antikolonial und dekolonisierend als auch interkulturell und inklusiv ist.
  • die Würdigung demokratischer Traditionen nicht an nationalen Grenzen aufhört und dass Menschen außerhalb von Deutschland und Europa, die gegen das von Deutschland ausgehende koloniale oder nationalsozialistische Unrecht gekämpft haben, erinnert und gewürdigt werden.
  • Ihre Arbeitsgemeinschaft „Orte der Demokratiegeschichte“ divers besetzt werden muss – angesichts von Deutschlands Globalgeschichte und proportional zur heutigen demografischen Entwicklung in Deutschland.

In diesem Sinne erlauben wir uns, Ihren Leitsatz zu zitieren: „Demokratie, Grund- und Menschenrechte sind nicht selbstverständlich. Sie müssen immer wieder aufs Neue erkämpft und verteidigt werden.“

Wir, zivilgesellschaftliche Initiativen im bundesweiten Decolonize-Bündnis, sehen Ihrer Antwort und Stellungnahme bis zum 15.03.2021 entgegen an unsere folgende Bündnis- Mailadresse: decolonize@isdonline.de

Unterzeichnende:

Arbeitskreis Hamburg Postkolonial
Arca – Afrikanisches Bildungszentrum e. V.
Dr. Manuela Bauche
Berlin Postkolonial
Bielefeld Postkolonial
Bismarckʼs Critical Neighbours
Bonn Postkolonial
Decolonize Bismarck
Decolonize Erfurt
Farafina Berlin
Forum der Kulturen Stuttgart e. V.
frankfurt postkolonial
Freiburg Postkolonial
gießen postkolonial
Initiative Amo – Braunschweig Postkolonial
Initiative Cottbus postkolonial und postsozialistisch
Initiative Schwarze Menschen in Deutschland/ISD Bund
Initiative Schwarze Menschen in Deutschland/ISD Gießen
Initiative Schwarze Menschen in Deutschland/ISD Frankfurt
Initiative Schwarze Menschen in Deutschland/ISD Hamburg
Initiative Schwarze Menschen in Deutschland/ISD Stuttgart
Intervention Bismarckdenkmal Hamburg
KARFI – Schwarzes Kollektiv für Empowerment und rassismuskritische Bildung Leipzig Postkolonial
Pädagogisches Zentrum Aachen

Gedanken von frankfurt postkolonial zur Verleihung des diesjährigen Antirassismus-Preis der Stadt Frankfurt an unsere Initiative

Die Stadt Frankfurt, vertreten durch das Amt für multikulturelle Angelegenheiten, hat unserer Initiative den dieses Jahr neu geschaffenen und mit 5.000 Euro dotierten Antirassismus-Preis verliehen. Im Kontext dieser durchaus symbolisch wichtigen Ehrung möchten wir kurz unsere Gedanken teilen.

Zunächst möchten wir uns bei all denjenigen Gruppen, Organisationen und Einzelpersonen bedanken, die seit fast einem Jahrzehnt unser Angebot wahrnehmen, sich auf eine (post)koloniale Spurensuche in der Stadt Frankfurt zu begeben. Ohne Ihr und Euer Interesse und Bereitschaft an rassismus- und kolonialismuskritischer Auseinandersetzung wäre unsere Arbeit nicht möglich. Konkret möchten wir zudem dem Entwicklungspolitischen Netzwerk Hessen (EPN) für die vielfältige Unterstützung unserer Arbeit und der Einbettung in weitere kritische Rundgangskontexte danken. Ein besonderer Dank geht an die lokale Gruppe der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD), die nicht nur unseren Rundgang regelmäßig kritisch begleiten sondern uns auch inspirieren und zur kritischen (Selbst-)Reflexion ermutigen. Danke auch an das Künstlerhaus Mousonturm sowie an das Weltkulturenmuseum und Historische Museum Frankfurt, die uns Räume zur kritischen Aufarbeitung ihrer und der Frankfurter Geschichte im Allgemeinen zur Verfügung gestellt haben. Über die Stadtgrenzen hinaus bedanken wir uns bei unseren Mitstreiter*innen der vielen rassismus- und kolonialismuskritischen »postkolonial« Initiativen in Deutschland – von München bis Berlin, von Leipzig bis Köln.

Während diese Ehrung ein passender Anlass ist, um uns bei unseren Netzwerken, Unterstützer*innen und Rundgänger*innen zu bedanken, möchten wir die Gelegenheit auch nutzen, um über das Erreichte nachzudenken. Augenscheinlich werden antirassistisches Engagement und kritische Auseinandersetzungen mit der Frankfurter und der Deutschen Kolonialgeschichte von Seiten der Stadt Frankfurt gewürdigt und von der allgemeinen Öffentlichkeit begrüßt – das freut uns sehr. Dennoch ist es verwunderlich, dass gerade eine Initiative geehrt wird, die aus mehrheitlich weiß positionierten Personen mit akademischem Bildungshintergrund besteht. Rassistische Strukturen wurden in erster Linie von uns weißen Menschen geschaffen und wir sind es, die davon nach wie vor profitieren. Insofern ist es für uns selbstverständlich, dass wir auch in der Verantwortung stehen, dazu beizutragen, diese Strukturen zu überwinden.

Es gibt in der Frankfurter Zivilgesellschaft zahlreiche selbstorganisierte Gruppen und Initiativen, die teilweise seit Jahrzehnten gegen Rassismus und Diskriminierung ankämpfen und ihre Stimme erheben. Doch leider wurde oder wird ihnen nur selten zugehört und ihre essentielle Arbeit oft unzureichend wahrgenommen. Unsere Stellungnahme ist daher ein Aufruf, all jene Stimmen zu würdigen, die teilweise aufgrund von eigener Betroffenheit für eine antirassistische (Frankfurter Stadt-)Gesellschaft kämpfen. Daher werden wir das Preisgeld an diese Organisationen spenden und unter anderem für ein Kooperationsprojekt mit der ISD verwenden.

Wir freuen uns durchaus über die Anerkennung unseres »Engagement[s] in der Aufklärungsarbeit über Rassismus und Diskriminierung in unserer Geschichte«. Dennoch sorgen wir uns, dass der Fokus auf die Vergangenheit, die in dieser Begründung mitschwingt, die gegenwärtigen Formen von Rassismus in Frankfurt, die andere Gruppen eher adressieren als wir, unter den Tisch fallen lässt. Denn koloniale Geschichte hat nicht aufgehört – sie lebt in veränderter Form weiter und muss nach wie vor überwunden werden. Unser Engagement zu würdigen bedeutet daher, sich aktiv gegen Rassismus und Diskriminierung im Hier und Jetzt einzusetzen. Denn auch wenn Spuren die Zeichen von etwas Vergangenem sind, sind sie und ihre fatale Wirkung immer noch aktuell. Daher geht es bei all unseren Rundgangsstationen ausgehend von der Vergangenheit immer auch um Rassismus und Diskriminierung in der heutigen Zeit.

In einigen Fällen – etwa im Falle der M-Apotheken – ist es durchaus geboten, bestimmte Manifestationen der kolonialen Vergangenheit oder rassistischen Gegenwart zu entfernen (und adäquat zu dokumentieren). Wir setzen uns jedoch nicht dafür ein, alle (post-)kolonialen Spuren aus dem Stadtbild zu tilgen, denn ein pauschaler kosmetischer Eingriff in das Stadtbild wäre vielfach genau das: Bloße Kosmetik, die Gefahr läuft, die deutsche Kolonialvergangenheit und gegenwärtigen Machtasymmetrien zu negieren. Wenn sich eine Stadt wie Frankfurt am Main tatsächlich Antirassismus auf die Fahnen schreibt, muss diese Gebärde unterfüttert werden: Die Stadtpolitik muss ihre beschränkten und doch zahlreichen Möglichkeiten nutzen, die strukturellen und materiellen Wurzeln von Rassismus und Ungleichheit anzugehen.

Was brauchen wir also für ein antirassistisches und diskriminierungsfreies Zusammenleben in der Stadt? Wir brauchen nicht nur Ehrungen, sondern verlässliche finanzielle Förderungen für selbstorganisierte Gruppen von Migrant*innen und BPoCs sowie mehr Diversität in der Stadtverwaltung, in Schulen und Medien. Wir brauchen einen sicheren Hafen und die Einhaltung von Menschenrechten in der Asylpolitik. Wir brauchen Übernachtungsmöglichkeiten und Schutzräume für geflüchtete Menschen sowie mehr Geld für Frauenhäuser, die mehrheitlich von Migrant*innen und geflüchteten Frauen aufgesucht werden. Wir brauchen ein Ende von Racial Profiling und rechten Netzwerken in der Polizei sowie eine Studie über Rassismus und Rechtsextremismus in den Behörden. Wir brauchen rassismus- und kolonialismuskritische Perspektiven in allen Frankfurter Museen und ein diverses sowie rassismussensibles Museumspersonal. Wir brauchen Kinder- und Schulbücher, in denen Schwarze Kinder und Kinder of Color repräsentiert werden und Rassismus nicht reproduziert wird. Wir brauchen ein Bewusstsein, dass black facing rassistisch ist – in der Werbung wie auch an Karneval. Wir brauchen ein Straßenbild, in dem sich alle wiederfinden können, ohne rassistischen Begriffen und Stereotypen begegnen zu müssen. Wir brauchen eine lückenlose Aufklärung der NSU-Morde, der Terroranschläge von Halle und Hanau und des Mords an Christy Schwundeck. Wir brauchen konkrete antirassistische Solidarität der weißen Mehrheitsgesellschaft. Wir brauchen Taten statt Worte, besser Heute als Morgen – dekolonial statt nur postkolonial. Wir sehen diese Preisverleihung als Selbstverpflichtung der Stadt Frankfurt, dem nachzukommen. Machen Sie Frankfurt zu einer antirassistischen und diskriminierungsfreien Stadt, in der alle Platz haben und gerne leben!

frankfurt postkolonial

[muc] münchen postkolonial: Audiorundgang durch München

Die Gruppe [muc] münchen postkolonial hat einen kürzlich einen Rundgang zum Anhören online gestellt, in dem verschiedene Verortungen (post-)kolonialer Vergangenheit und Gegenwart in München vorgestellt werden.

Darunter etwa die Gedenktafel der Kolonialkriege am Münchner Südfriedhof oder die Bugverzierung ›Tangué‹, die als Raubbeute aus dem heutigen Kamerun entwendet wurde und heute noch immer im Museum Fünf Kontinente lagert.

Den Audio-Rundgang könnt ihr euch auf den Seiten von [muc] münchen postkolonial anhören.

Historisches Museum Frankfurt: ›Rassismus – Die Erfindung von Menschenrassen‹

Im Historischen Museum Frankfurt gibt es derzeit die Stadtlalbor-Ausstellung ›Ich sehe was, was Du nicht siehst. Rassismus, Widerstand und Empowerment‹ zu sehen, bei der wir, die Initiative frankfurt.postkolonial, mitgewirkt haben. Corona-bedingt ist die Ausstellung gerade geschlossen – aber möglicherweise öffnet sie nochmals bis zum Ende am 28. Februar 2021.

Im Deutschlandfunk Kultur und im MiGAZIN werden die Ausstellung rezensiert.

Audiorundgang durch das post/koloniale München

Wir haben einen Audiorundgang durch das post/koloniale München aufgenommen. Eva Bahl und Katharina Ruhland sprechen über dekoloniale Aktionen, Spuren der deutschen Kolonialgeschichte im Stadtraum und über Verletzungen, die diese z. B. in Kamerun und Namibia hinterlassen hat. Er sollte in … Continue reading

Kolumbusplatz umbenennen

Heute Nachmittag gab es am Münchner Kolumbusplatz eine dekoloniale Aktion. Die Veranstalter*innen haben auch eine Petition gestartet: Kolumbusplatz/-straße umbenennen!
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